Manchmal sitze ich nur noch da und bin fassungslos. Was passiert da gerade in der Welt der Politik? Sind jetzt alle durchgedreht? Wir habe gerade Wahlkampf. Und was sind wichtigsten Themen? Migration und Bürgergeld!
Kanzlerkandidat Merz will allen Ernstes die Grenzen wieder dicht machen, um Migration einzudämmen? Hat den Mann denn niemand beraten? Flüsterten die Vertreter der Wirtschaftslobby dem Merz nicht ins Ohr: „Friedrich, mach das nicht! Das ist für uns ganz schlecht. Denk doch mal an die Coronazeit. Das waren viele Millionen, die die Grenzschließung die Wirtschaft kostete!“ Und wenn das jemand geflüstert hat, wurde er von Fritze beiseitegeschoben mit dem Satz: „Aber ich mache das trotzdem!“ Auch wenn er dabei wahrscheinlich Europarecht bricht. Und warum macht er das? Weil er damit ein Problem lösen will? Vielleicht denkt er: „Wenn jetzt keiner mehr reinkommt, kann nichts mehr passieren.“ Ja, lieber Friedrich, darüber denken wir jetzt besser nicht weiter nach. Da stimmt einiges nicht.
Sehen die Oligarchen des Konservatismus nicht, dass die fürchterlichen Anschläge der letzten Jahre und Monate nicht das Ergebnis von individueller Charakterschwäche, sondern dem Versagen der Migrationspolitik über Jahrzehnte ist, die immer auf Abschreckung statt auf eine Willkommenskultur setzte. Seit mehr als 20 Jahren weiß man, dass Deutschland Zuzug braucht. Schon damals wusste man, dass sich der Bevölkerungsschwund durch die Geburtenentwicklung und die Abwanderung (Ja, liebe Freunde, auch die gibt es! Besonders bei hochqualifizierten jungen Leuten) nicht durch Menschen aus den dem östlichen Europa kompensieren lässt, wie man es sich so schöngeträumt hatte. Mögliche Kandidaten aus Slowenien, Kroatien, Serbien oder Bosnien – immerhin Europäer – waren nämlich schon damals in Irland, Großbritannien und den USA, weil die Arbeitsbedingungen besser, eine gewisse Willkommenskultur vorhanden, die Geschichte der Migration länger und die Sprache einfacher war. Und wer kam zu uns? Na die, für die es in Irland, Großbritannien oder den USA keine Perspektive gab. Und das war nicht Elite. Schon damals war klar, dass für die, die wir wollen, Deutschland nicht attraktiv ist.
Das wurde aber nicht wahrgenommen. Noch immer waren wir der Meinung, dass für viele Migranten Deutschland das Einwanderungsparadies schlechthin sein müsse. Wahrscheinlich wegen des Sozialsystems oder weil es schon immer eine Tendenz zur deutschen Selbstüberschätzung gab. Denn vom Arbeitsmarkt hält man ja bis heute die Migranten fern, damit sie … Ja, warum eigentlich? Wahrscheinlich steckt da so eine Art Abschreckung dahinter: Wir isolieren sie am Rand der Gesellschaft, machen ihnen das Leben schwer, damit sie wieder gehen. Hat das funktioniert? Nein! Die Migranten sind trotz dieser Abschreckung geblieben, auch deshalb, weil für viele von ihnen, besonders für die Nichteuropäer, der Weg zurück in eine sozialen Katastrophe geführt hätte: Viele von ihnen wurden von ihren Familien oft in einem Akt der Verzweiflung mit Geld ausgestattet, mit für ihre Verhältnisse viel Geld, mit dem sie sich dem dornigen und gefahrvollen Weg nach Europa finanzieren sollten. Das macht man nicht mit den Dümmsten der Familie, sondern mit den Schlauen. In der Hoffnung, dass der Bub in Europa Fuß fasst und das Geld zurücküberweisen kann. Und dieser Kerl soll dann freiwillig in ein Flugzeug steigen und in den Senegal zurückfliegen und dann sagen: „Sorry, Leute, das war wohl nichts und das ganze Geld von euch ist auch weg?“ Das macht er sicher nicht. Vielleicht zieht er ja weiter. Nach Frankreich, nach Spanien. Vielleicht kommt er ja auch auf die Idee nach Portugal, wo man inzwischen erkannt hat, dass es schlau ist, Migranten möglichst schnell zu qualifizieren, um das Auswanderungsdefizit zu kompensieren. Wohin sind sie nicht gegangen? In ihre Heimatländer!
Und was machen wir in Deutschland? Wir könnten mit unseren Migranten viele Probleme lösen: Wenn wir ihnen schnell den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen, wenn wir kompetente Lehrer einsetzen, die ihnen Deutsch beibringen, wenn wir ihren die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie eine Ausbildung machen, und wenn wir etwas pragmatischer dabei wären, ausländische Studienabschlüsse anzuerkennen, aber auch, wenn wir Arbeitgeber dazu ermutigen, ihr Englisch wieder aufzupolieren, hätten wir viele Probleme gelöst. Natürlich kann man jetzt hineinabern: Wer soll das alles zahlen? Die Ausbildung, die Schulungen! Natürlich wir, die Gegenwärtigen, denn wenn wir die Damen und Herrn Migranten dem leergefegten Arbeitsmarkt zuführen, werden sie Steuern und Sozialabgaben zahlen – auch eure Renten! Und das Geld, was wir jetzt investieren, wäre spätestens in 10 Jahren wieder eingespielt. Und jetzt? Jetzt belasten viele von ihnen die Sozialkassen, weil sie nicht arbeiten dürfen. Und die, die arbeiten dürfen, zahlen schon jetzt ein: Etwa 75% der Migranten, die 2015 ins Land kamen, sind jetzt sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Es ist zu befürchten, dass das weniger werden, weil man ja beabsichtigt Syrer, die als Kriegsflüchtlingen zu uns kamen, abzuschieben. Was für ein Irrsinn!
Und warum integrieren wir nicht konsequenter? Es liegt wohl an unserem Denken. Ich will nicht so weit gehen, dass da wohl noch postkoloniale Muster am Start sind: Hier die fleißigen Deutsche, dort die faulen Fremden. Das wäre zu platt. Ein Problem ist wohl der Satz, der sich eingebrannt hat: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Genau betrachtet stimmt der Satz insoweit, als nicht alle Migranten freiwillig eingewandert und geblieben sind. Viele wollten auch ganz schnell wieder weg. Es gibt aber keine Phase der deutschen Geschichte, in der die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht durch Menschen aus der Fremde ergänzt wurde. Schon im Kaiserreich waren es Menschen aus den Kolonien, aus Italien und Polen. In der Weimarer Republik kamen Flüchtlinge aus der neu entstandenen Sowjetunion sowie Polen und Oberschlesier (das damals schon zu Polen gehörte), die ihre Arbeitskraft im Ruhrgebiet zu Verfügung stellten. Und der Zweite Weltkrieg wäre nicht führbar gewesen ohne ein einigermaßen wirtschaftlich stabiles Deutschland, in dem Fremdarbeiter aus den besetzten Ländern mit Gewalt gezwungen wurden, die Arbeit der Männer zu übernehmen, die im Krieg waren. Auch die KZ-Häftlinge in Deutschland waren – besonders zum Kriegsende hin – hauptsächlich Ausländer. Danach kamen die Flüchtlinge und Vertriebenen, die oft genauso schlecht behandelt wurden, wie wir unsere Migranten behandeln. Auch sie waren fremd, arm, bedürftig, auch ihnen glaubte man nicht, dass viele von ihnen einmal sehr wohlhabend und einflussreich gewesen waren; auch sie wurden ausgegrenzt und vieler Übergriffe beschuldigt. Sie waren Fremde, sehr motivierte Fremde und sehr viele, und so wurden sie zur Treibladung des Wirtschaftswunders. Und danach? Die Gastarbeiter im Westen aus Spanien, Portugal, Italien, der Türkei und besonders nach 1990 die Angehörigen der deutschen Minderheiten aus dem ehemaligen Ostblock; Vertragsarbeiter aus Polen, Ungarn, Vietnam, Mosambik, Angola, China, Korea, Jemen und Kuba in der DDR. Streng genommen gibt es ja auch noch eine Binnenmigration von Ost- nach Westdeutschland nach 1989. Und bei der Geschichte wollen wir kein Einwanderungsland sein? Ein Land der Migration sind wie allemal – und das, seit es ein Deutschland gibt.
Was ist jetzt der Unterschied? Bislang wurde Migration meist dazu genutzt, um Probleme zu lösen. Das wäre jetzt auch möglich, aber wir machen es nicht! Und warum macht man es nicht? Ich weiß es beim besten Willen nicht. Ich habe keine Antwort. Und das passiert mir selten. Vielleicht weiß es ja der Fritze.
Christian Feja
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